Von Renate Klammer
Vor Gericht in Göttingen
1. Prozesstag (27.05.2003)
Dem Täter das erste Mal gegenüberstehen war schlimm. Ich habe fast eine Stunde gebraucht, bis ich mich wieder gefasst hatte. Dann zu Anfang seine Entschuldigung. Etwas theatralisch: „Wo ist die Mutter?“ Ich war in der Reihe die einzige Frau. Und dann eine schulterzuckende Entschuldigung, die man bestimmt nicht ernst nehmen konnte. Seine Bemerkung, er wäre Araber und etwas anders im Kopf. Dann wollte er eine Rede an das Publikum halten. Dabei wurde er aber von dem Richter gebremst, mit den Worten: Er wäre das Publikum und zu ihm sollte er sprechen. Dann kam ein wortreiches wie nichtssagendes Geständnis, dass er in der Spielothek war und Melanie ihn provoziert hätte, wegen einem falschen 100 Euroschein. Ausgerechnet Melanie! Und plötzlich stand er in der Mitte und demonstrierte den Angriff mit dem Messer, ohne dass er dazu aufgefordert worden wäre. Außerdem ist er ausgerastet als ihn der Richter fragte ob er versucht hätte Melanie zu vergewaltigen, worauf er schrie: „Ich nix machen sexuell“. Außerdem hat er sich aufgeregt, weil er aus dem Publikum böse angeschaut wurde.
Bei unserem Rechtsanwalt fühlen wir uns ganz gut aufgehoben und es tut auch gut, so viele bekannte Gesichter im Publikum zu sehen.
2. Prozesstag (28.05.2003)
Am nächsten Tag fällt es mir etwas leichter, dorthin zu gehen und ihm gegenüber zu sitzen. Er hat aber ein paar mal richtige Ausraster und unser Anwalt fordert stärkere Sicherheitsmaßnahmen. Darauf hin bekommt er Fußfesseln. Ich finde das auch besser so. Nach der Mittagspause wird die Verhandlung abgebrochen, weil er sich angeblich nicht mehr unter Kontrolle hat. Manchmal gibt es fast komische Situationen. Wenn alle Anwälte am Richtertisch stehen, kritzelt er immer ganz angestrengt auf einem Papier herum, obwohl alle wissen, dass er gar nicht richtig lesen und schreiben kann. Der Dolmetscher schaute auf das Papier, stutzte, guckte noch mal drauf, nahm seine Brille ab und guckte noch mal ganz genau. Nachher hat er uns erzählt, er schreibt bruchstückhafte, falsche Sätze und wiederholt das immer wieder.
3. Prozesstag (02.06.2003)
Am Montag war dann der dritte Verhandlungstag mit vielen Zeugen. Eine Zeugin wollte sich nicht mehr erinnern, weil sie Angst hatte. Dabei ging es nur um die Rolle Klebeband, die er bei ihr gekauft haben soll. Andere Zeugen haben ihm an dem Abend vorher gesehen und sind dazu befragt worden. Inzwischen grinst er mich auch ganz frech an, wenn ich ihn ansehe, damit habe ich ein Problem, am liebsten würde ich ihm den Hals umdrehen. Die Schwägerin von Melanie und Gerd hat auch an diesem Tag ausgesagt, sie wurde an dem Tag vor der Spielothek fast von ihm umgerannt. Ihre Aussage war sehr emotional und das fällt mir am schwersten, da es meine eigenen Gefühle berührt.
4. Prozesstag (06.06.2003)
Heute sollte eigentlich der Rechtsmediziner aussagen aber so weit sind wir gar nicht gekommen. Beim ersten Zeugen ist er total ausgerastet und hat einen Tisch umgetreten, trotz der Fußfesseln. Bei seinen Ausrastern habe ich immer Melanie vor Augen, wie sie ihm gegenüber steht. Und die Bilder die ich im Kopf habe werden so langsam zum Film. Anschließend wurde die Verhandlung wieder abgebrochen, weil der Angeklagte nicht mehr in der Lage war, der Verhandlung zu folgen. Alles für den Angeklagten. Manchmal habe ich das Gefühl, sein Verteidiger hat mit ihm diese Show abgesprochen. Sein Dolmetscher ist nämlich bei seinem Ausraster gleich zur Seite gesprungen, nur der Verteidiger ist ganz ruhig sitzen geblieben. Kellys Termin ist auch wieder verschoben worden. Der Angeklagte behauptet immer noch, er wäre gar nicht in Belgien gewesen. Er ist ja fest der Meinung, Kelly ist tot, er hat sie ja seiner Meinung nach tot liegen lassen.
5. Prozesstag (12.06.2003)
Die Gutachter wurden heute befragt, ob er denn verhandlungsfähig wäre. Sie haben beide ausgesagt, er ist verhandlungsfähig. Er würde auch vorher merken, wenn in so einen Erregungszustand kommt, z.B. durch Zittern und er möchte dann eine kurze Pause haben. Das heißt, er hat das Gericht jetzt in der Hand, er bestimmt die Pausen. Dann war der Rechtsmediziner dran. Dabei kamen noch ein paar Einzelheiten zur Sprache, die mir doch neu waren. Er hat ihr mit den Schlägen mit dem Feuerlöscher auf den Kopf den Oberkiefer weggesprengt und sie hatte auf beiden Schultern schwere Hämatome von den Schlägen, die den Kopf verfehlt haben. Vielleicht hat sie noch versucht auszuweichen. Und wenn man ihn dann dabei ansieht, seine Show, seine Grimassen und sein Grinsen, ich könnte ihn umbringen. Es tut gut, wenn man in den Pausen raus kommt und es stehen Freunde da und nehmen einen in den Arm. Zum Schluss war sein Freund als Zeuge da und hat ausgesagt. Bei ihm hat er immer angerufen und sich informiert, was hier los ist.
6. Prozesstag (13.06.2003)
Heute waren nur zwei Zeugen geladen, es hat aber trotzdem bis kurz vor 14 Uhr gedauert, mit diversen Pausen, weil der Angeklagte das Zittern bekam. Aber der Gutachter erklärte ihn für verhandlungsfähig. Ein Angestellter der Spielothek hat ausgesagt und konnte viele Punkte des Geständnisses widerlegen. Der Angeklagte ist ihm auch in der Spielothek schon mal aufgefallen als er mit zwei Freunden zum Billard spielen dort war und sich lautstark aufregte, weil er verloren hatte. Zum Schluss sagte Melanies Freundin aus. Sie wurde gefragt was Melanie für ein Mensch war, ob sie leicht aufbrausend war. Sie meinte, dass Melanie sehr ausgeglichen und ruhig war, selbst mit ihren Hunden nicht geschrieen hat. Dann kam von dem Verteidiger eine Frage, er ist in dem Protokoll ihrer ersten Aussage bei der Polizei über das Wort ‚bockig‘ gestolpert. Sie hatte damals gesagt, dass Melanie Gerd geliebt hat und dass die beiden Kinder haben wollten. Dass sie sich nie gestritten haben, sie höchstens mal etwas bockig wurde, wenn ihr irgendetwas nicht passte. Ihre Aussage hat uns alle sehr berührt.
7. Prozesstag (20.06.2003)
Als Zeugen waren Mitarbeiter und Besucher der Spielothek geladen. Die Befragung drehte sich hauptsächlich um das Klebeband, ob welches in der Spielothek vorhanden war, oder ob es der Täter mitgebracht hat. Ein Polizist der als Zeuge geladen war, erzählte uns, dass der Täter in Hannover im Gefängnis einen eigenen Fernseher und eine Playstation hat. Außerdem bekommt er arabisches Essen.
8. Prozesstag (27.06.2003)
Es waren Zeugen da, die mit ihm schon Auseinandersetzungen hatten. Bei der Aussage ist er wieder ausgerastet. Bekannte von ihm waren noch geladen, bei denen er sich nach der Tat versteckt hat und die ihm weitergeholfen haben, obwohl sie behaupten, von dem Mord nichts gewusst zu haben.
9. Prozesstag (01.07.2003)
Heute war als Zeugin, die junge Frau aus einem Comicgeschäft, welches vier Wochen vorher auch überfallen worden ist. Dort ist er durch Kunden gestört worden aber ansonsten gibt es viele Ähnlichkeiten zu der Tat in Adelebsen.
10. Prozesstag (07.07.2003)
Eine Sachverständige vom LKA hat über die DNA ausgesagt, was sehr langwierig war, danach wurde abgebrochen, wegen Erkältung des Verteidigers.
11. Prozesstag (17.07.2003)
Eine Mitarbeiterin aus einem anderem Geschäft hat ausgesagt, dass er in dem Geschäft war und versucht hat, sie nach hinten zu locken, als sie ihn identifiziert hat, ist er wieder ausgerastet und hat sie angeschrieen. Dann hat Kelly ihre Aussage gemacht. Er hat Kelly angeschrieen, sodass es mit ihrer Beherrschung vorbei war und sie mit den Tränen kämpfte. Sie hat den Richter um eine Pause gebeten, die aber abgelehnt wurde. Wenn der Täter eine Pause haben will, wird das sofort gemacht aber das Opfer soll sich mal nicht so anstellen. Unser Anwalt hatte den Antrag gestellt, das der Täter von der weiteren Befragung ausgeschlossen würde, da sie sich bedroht fühle aber der Antrag wurde vom Gericht abgewiesen.
12. Prozesstag (25.07.2003)
Heute war der belgische Untersuchungsrichter als Zeuge geladen und musste dem Richter erst Mal das belgische Rechtssystem erklären. Während der Aussage fiel des öfteren der Name des Täters worauf hin dieser wieder ausrastete.
13. Prozesstag (31.07.2003)
Heute waren nur nebensächliche Zeugenaussagen und das Gericht macht jetzt bis Anfang September Urlaub.
14. Prozesstag (01.09.2003)
Dieser Tag nach vier Wochen Pause war fast so schlimm wie der erste Tag. Es ging noch mal um Klebeband außerdem waren zwei belgische Polizistinnen geladen die aber nicht erschienen sind.
15. Prozesstag (02.09.2003)
Heute hat nochmals ein Bekannter von ihm ausgesagt, über seine Kindheit, sein Vater soll ihn geschlagen haben und ab und zu in den Keller gesperrt haben. Wahrscheinlich war er schon als Kind ein Problemfall. Etwas Kurioses am Rande: Einer von den Wärtern liest den Koran und wird von dem Verteidiger und dem Dolmetscher darin bestärkt, er wäre auf dem richtigen Weg.
16. Prozesstag (08.09.2003)
Heute haben zwei Gutachter ausgesagt. Sie haben beide bestätigt, dass er voll schuldfähig ist. Einer der Gutachter hat ziemlich deutlich gesagt, dass seine Ausraster auf Gericht instrumentalisiert waren um damit etwas zu erreichen. Mit anderen Worten, alles nur Show. Es wurde ein Brief von seiner Schwester verlesen, die etwas über seine Kindheit geschrieben hat, unter anderem, wodurch er sein Auge verloren hat. Und zwar hat ihm ein Mitschüler mit einem Bleistift das Auge ausgestochen und keine Minenexplosion der Hisbollah, wie er behauptet hat.
17. Prozesstag (10.09.2003)
Ein Polizist und ein Angestellter der Spielothek wurden befragt, dann wurde ein Teil des Tatortvideos gezeigt, wo es um die aufgebrochene Kasse ging.
18. Prozesstag (11.09.2003)
Der Staatsanwalt hat heute sein Plädoyer gehalten, über 2 1/2 Stunden. Er hat gleich am Anfang gesagt, dass das Geständnis des Angeklagten Quatsch sei und ist dann in allen Einzelheiten auf die Tat eingegangen. Das war zwar wichtig aber für uns sehr schwer. Wenn man die Tat in allen Einzelheiten geschildert bekommt und gleichzeitig dem Täter gegenüber sitzt und ihn anschaut, das ist fast mehr als man ertragen kann. Unser Anwalt hat auch noch sein Plädoyer gehalten. Er meinte zu den ersten Messerstichen in den Rücken, dass Melanie weglaufen wollte und er dann von hinten zugestochen hat und das sehen wir genauso. Bei beiden Plädoyers ging es auch um die besondere Schwere der Tat. Hoffentlich sehen die Richter das auch so.
19. Prozesstag (18.09.2003)
Heute hat unser zweiter Anwalt sein Plädoyer gehalten und Teile aus Bastians Text aus dem Internet vorgelesen. Alle waren sehr berührt. Anschließend hat der Verteidiger sein Plädoyer gehalten. Er hat eine Verurteilung wegen Raub mit Todesfolge und 12 Jahre gefordert.
20. Prozesstag (29.09.2003)
Die Urteilsverkündung: Lebenslänglich ohne besondere Schwere der Schuld.
Vor Gericht in Brügge
10. Oktober 2006
In Belgien wird nun, nach über vier Jahren der Prozess beginnen, in dem sich der Mörder von Melanie für den Raubüberfall und versuchten Mord an Kelly Hesters verantworten muss. Der erste Gerichtstermin ist am 16. Oktober 2006. Für die Dauer der Gerichtsverhandlung ist eine Woche vorgesehen. Doch kann es gut sein, dass es schon eher zu einem Urteil kommen wird, da für den Mörder keine Zeugen geladen sind.
Der Mörder hatte Kelly Hesters am 16. April 2002 im belgischen Nieuwpoort überfallen, zwei Wochen nachdem er Melanie ermordet hatte.
16. Oktober 2006
Um neun Uhr fing der Prozess an mit der Auswahl der 12 Geschworenen plus zwei Ersatzleuten. Danach wurde die Anklageschrift verlesen. Es folgten die Zeugenaussagen von Polizisten, ein Fachmann für DNA, Kellys Vater, der aussagte, wie er sie vorgefunden hat, und zum Schluss der Gerichtsmediziner, der Kellys Verletzungen untersucht hat. Die Fotos der Verletzungen wurden der Jury vorgelegt. Dazu wurde der Angeklagte befragt und konnte sich dazu äußern. Nach einiger Zeit unterbrach der Richter seine Äußerungen, die nicht sachdienlich waren.
17. Oktober 2006
Zuerst kam eine Polizistin der Spurensicherung, die anhand von Tatortskizzen die Spuren erklärte. Anschließend kam der belgische Untersuchungsrichter, der auch schon in Göttingen aussagte. Er schilderte den Tathergang, wobei er die Gemeinsamkeiten zwischen den Taten in Göttingen und Nieuwpoort hervorhob. Wichtig war ihm auch auf die große Brutalität des Täters bei den Tatausführungen hinzuweisen. Als nächstes berichtete eine Kommissarin, die nach Kellys Entlassung aus dem Krankenhaus ihre Aussage über den Tathergang aufgenommen hatte. Mutig schilderte dann Kelly detailliert den Tathergang. Tapfer hielt sie bis zum Schluss durch obwohl es ihr nicht leicht fiel, über bestimmte Vorgänge zu sprechen. Danach beschrieb ein Kommissar den Weg des Täters nach der Tat von Nieuwpoort nach Paris. Aufschlussreich war dann die psychiatrische Einschätzung. Der Täter wird als absolut gewalttätig, gefühllos und antisozial beschrieben, der Spaß am Leiden anderer hat. Der Psychiater betonte auch, dass der Täter weder medikamentös behandelbar ist, noch therapierbar sondern ganz im Gegenteil eine Therapie seine Manipulationsmöglichkeiten noch verbessern würde. Als letztes sagten mehrere Verkäuferinnen aus, ihnen war der Täter im Vorfeld aufgefallen, so rutschte ihm in einem Laden ein Messer aus dem Ärmel.
18. Oktober 2006
In seinem Plädoyer beschrieb der Staatsanwalt den Täter als Serienmörder und wurde in seiner Aussage von dem Plädoyer von Kellys Anwalt bestätigt. Die Verteidigung verwiesen auf seine schwere Kindheit und forderte mildernde Umstände. Außerdem hat der Täter, nach Meinung der Verteidigung, nicht mit Vorsatz gehandelt. Nach gründlicher Beratung sprachen ihn die Geschworenen in allen Anklagepunkten für schuldig. Mit 30 Jahren Gefängnis wurde die höchste in Belgien mögliche Strafe ausgesprochen.